Hinter den Kulissen von David Bowies Berlin-Trilogie
An diesem 8. Januar wäre David Bowie 78 Jahre alt geworden. Seine Berlin-Trilogie aus den Jahren 1976 bis ’78 gilt als Meilenstein der Rockmusik. Ein Ortsbesuch in den Hansa Studios, wo er damals wirkte.
David Bowies Song „Heroes“ vom gleichnamigen Album seiner Berlin-Trilogie stellt nicht nur ein Stück Musikgeschichte dar. Er ist ebenso in besonderer Weise ein Stück Zeitgeschichte. Die britische Rock-Ikone schrieb den Titel am „Arbeitsort“, den Berliner Hansa Tonstudios. Diese lagen im Entstehungsjahr, 1977, im West-Berliner Niemandsland, in einer Brache an der Mauer, die die Stadt damals teilte.
Von den Tonstudios aus blickte man direkt auf den Todesstreifen mit seinen Wachtürmen. Es heißt, die Wachleute darauf und die Künstler im Regieraum der Hansa Studios konnten sich gegenseitig zuwinken.
Bowies „Heroes“: Behind the scenes
Unter diesem Eindruck entstand Bowies Text über die Romanze eines Liebespaares im Schatten der Mauer: „I can remember standing by the wall, and the guns shot above our heads and we kissed as though nothing could fall“.
Wenn diese Zeilen in der zweiten Hälfte des Songs erklingen, schwillt die Musik zu einem dramatischen Crescendo an. Und auch Bowies Stimme verändert sich klanglich. Sie wird nicht nur lauter, sondern hallt auch auf einmal deutlich. Das hat seinen Grund.
„The Big Hall by the Wall“
Man hört hier den Raumklang des Aufnahmeraums. Bowie soll ihm den Namen „The Big Hall by the Wall“ gegeben haben. Gemeint ist der Meistersaal im Gebäudekomplex, in dem sich die Hansa Studios bis heute befinden. Damals fungierte er als Hansa Studio 2.
Der damalige Bowie-Produzent Tony Visconti hatte – von der Akustik des Saals angetan – in einigem Abstand zum eigentlichen Gesangsmikro zwei weitere Raummikros aufgestellt. So konnte er auf „natürlichem“ Wege den Effekt einer Hallkammer erzeugen, während Bowie seine Zeilen mehr in den Raum schrie als sang. Denn die beiden Raummikros waren mit Noise Gates belegt, die erst öffneten, wenn es laut wurde.
Die besondere Akustik des Meistersaals
„Die Akustik im Meistersaal ist einmalig und von der Berliner Bauinnung in den Jahren 1910 bis 1913 speziell konzipiert worden. Trotz seiner rechtwinkligen, fast quadratischen Form hat der Saal kaum Flatter-Echos oder stehende Wellen, der Hall hat einen sehr natürlichen Verlauf und Ausklang mit einer Länge von etwa anderthalb bis zwei Sekunden Nachhall“, führt Thilo Schmied aus.
Der gelernte Toningenieur Schmied ist ein großer Fan von David Bowie und verbindet nun seinen Beruf mit seiner Passion. In seiner „Hansa Studio Tour“ leitet er Interessierte auf den Spuren von Bowie und lässt die damalige Zeit mit zahlreichen Anekdoten und detailliertem Insiderwissen an Originalschauplätzen wiederauferstehen. Die „heiligen Hallen“ der Hansa Studios kann heutzutage nur betreten, wer eine von Schmieds Berlin Music Tours bucht. David Bowies Berlin-Trilogie bildet hier einen besonderen musikalischen Schwerpunkt.
An die heutige Adresse in der Köthener Straße 38 am Potsdamer Platz in der Berliner City zogen die Studios erst zu Bowies Zeiten, weshalb dieser zunächst noch im ersten Hansa Studio in der Berliner Nestorstraße arbeitete: „Der Mix von ‚Low‘ wurde dort begonnen, dann konnte man weitermachen in der Köthener Straße im Hansa Studio 2“, erläutert Thilo Schmied die näheren Umstände.
Eduard Meyer, Toningenieur des „Low“-Albums
Das Album „Heroes“ bildet mit dem Vorgänger „Low“ aus demselben Jahr, 1977, sowie dem 1979er-Nachfolger „Lodger“ die sogenannte „Berlin-Trilogie“ des britischen Weltstars David Bowie, die viele als visionärste und eine der kreativsten Phasen in seinem Schaffen ansehen. Sein „Low“-Album gilt heute als ein Meilenstein der experimentellen Rockmusik. Dafür zeichnete – neben Tony Visconti – Eduard Meyer verantwortlich, den man mit etwas Glück als Zeitzeugen bei der „Hansa Studio Tour“ kennenlernen kann. Der mittlerweile 81-Jährige wohnt schon lange nicht mehr in Berlin und ist nicht immer dabei.
Zu seinem Job als Toningenieur für David Bowie kam Meyer dabei rein zufällig. Als der damalige Studiomanager, der den Auftrag angenommen hatte, fragte, wer das gern übernehmen würde, waren da natürlich neben fachlichen vor allem gute Englischkenntnisse gefragt. „Die Meldebereitschaft war etwas zögerlich. Aber ich habe gleich gesagt: ‚Ich mache das gern‘“, erinnert sich Meyer. Als Abiturient hatte er Englisch gelernt. So kam es, dass er der Bowie-Produktion zugeteilt wurde.
Experimentell wie die Musik ging es mitunter auch beim Aufnehmen zu – obwohl David Bowie dem deutschen Aufnahmetechniker Eduard Meyer gegenüber zuerst einmal „etwas zurückhaltend“ war, wie Meyer schildert.
Acht Cellospuren für den Song „Art Decade“
„Das änderte sich dann aber schlagartig, als Tony Visconti ihm erzählt hat, dass ich studierter Cellist bin. Da fiel ihm ein, dass ich ja mal mein Cello mitbringen könnte. Er hat mir ein paar Noten aufgeschrieben. Und ich habe dann eine Cello-Spur eingespielt. Aus dieser einen Spur sind dann acht Spuren geworden, weil das Produktionsteam von David Bowie und Tony Visconti das so wollte. Dann habe ich also vier hohe Stimmen dazu gespielt und vier tiefe Stimmen, sodass der ganze Korpus das ganze Stück über schön am Brummen war“, schmunzelt Meyer.
Das Ganze ist zu hören im Song „Art Decade“ vom Album „Low“, das David Bowies Berlin-Trilogie einläutete. Allerdings höre man hier das Cello nicht so deutlich heraus, merkt Meyer an: Man müsse schon sehr die Ohren spitzen, um es wahrzunehmen.
Das Album „Low“ wurde in den Hansa Studios fertiggestellt und gemischt. Anders als der Nachfolger „Heroes“, der in den Hansa Studios aufgenommen und in den Schweizer Mountain Studios in Montreux gemischt wurde. Dort und in den New Yorker Record Plant Studios entstand 1979 auch „Lodger“, das trotzdem zu Bowies „Berlin-Trilogie“ zählt.
Musikgrößen gaben sich die Klinke in die Hand
Der für seine Extravaganz bekannte Musiker Bowie kam damals ganz untypisch und schlicht im Holzfällerhemd und mit Kurzhaarschnitt in die Studios „am Rande der westlichen Zivilisation“, so eine der vielen Zuschreibungen.
Heute geht das Gebäude der Hansa Studios in der dichten Bebauung der Berliner City eher unter, zudem ist es schmuck renoviert und saniert. Damals war es eine halbe Ruine. Dieser marode Unort mit seinem Ausblick auf die Mauer mit ihrem Todesstreifen muss eine große Faszination auf Künstler ausgeübt haben – schließlich nahmen neben Bowie auch Stars wie Depeche Mode, Nick Cave, Marillion oder U2 dort auf.
Der Meistersaal, der ursprünglich als Festsaal zur feierlichen Überreichung von Meisterbriefen diente, fungiert heute vor allem als Eventlocation und gehört nicht mehr zu den Hansa Studios. Die BESL Eventagentur, die ihn betreibt, ist einer von etlichen Mietern im Hause, das seit gut 50 Jahren dem Meisel Musikverlag gehört. Heute sind nur noch das Studio 1 und der Mischraum von den Hansa Studios in Betrieb.
Das legendäre Studio 2, der Meistersaal, wurde im Zuge von Renovierungsarbeiten Anfang der Neunzigerjahre zurückgebaut. „Auch nach dem Umbau klingt der Saal immer noch sehr sehr gut“, weiß Thilo Schmied. Zum Aufnehmen wird der Saal deshalb auch heute noch gern gebucht – von deutschen „Big Names“ wie Herbert Grönemeyer oder dem chinesischen Star-Pianisten Lang Lang. Auch die im selben Gebäude ansässigen Emil Berliner Studios nutzen ihn für Klassikaufnahmen.
R.E.M. spielten hier ihr letztes Konzert
Nachdem die US-Alternative-Rocker R.E.M. im Jahr 2010 in den Hansa Studios ihr letztes Album „Collapse Into Now“ aufgenommen hatten, spielten sie im Meistersaal ihr letztes Konzert vor einer Handvoll Freunde und Crew-Mitglieder, wie man bei Schmieds „Hansa Studio Tour“ erfahren kann. Ein Porträt von R.E.M.-Frontmann Michael Stipe hängt
gerahmt im Foyer des Hauses Köthener Straße 38 – neben anderen Musiklegenden, die dort weilten, wie Zarah Leander, Hildegard Knef, Reinhard Mey, Jimmy Page, Udo Lindenberg und vielen weiteren.
Und wo in früheren Zeiten einmal ein Fenster der Rezeption war, prangt im Andenken an den berühmten Gast, der am 10. Januar 2016 mit 69 Jahren verstarb, eine große Tafel mit der Aufschrift: „Look up here, I’m in heaven – David Bowie“. Auf der gegenüberliegenden Seite, und hier schließt sich der Kreis, liest man ein Zitat aus dem Text seines Songs „Heroes“.
Eduard Meyer über die Entstehung der Alben „Low“ und „Lust for Life“
STEREO fragte Toningenieur Eduard Meyer, wie es in den Siebzigern bei der Entstehung legendärer Alben von David Bowie und Iggy Pop zuging.
„Low“ und „Heroes“ gelten als wegweisende Alben der experimentellen Rockmusik. Hatten Sie damals eine Vorahnung, dass Sie Musikgeschichte mitschreiben?
Ich war kein Bowie-Fan, dachte mir aber, dass das interessant werden könnte. Dass es diesen durchschlagenden Erfolg haben sollte, ließ sich damals nicht ahnen. Vor allem, weil die Leute der Plattenfirma RCA, nachdem wir „Low“ fertig gemixt hatten, sich die Haare rauften und meinten: „Was soll das? Wir wollen was Rockiges haben!“ Ich hörte auch, dass viele Leute die Aufnahmen erst mehrmals hören mussten, um zu verstehen, was damit eigentlich gemeint war.
Bei „Low“ haben wir übrigens nicht die kompletten, sondern ergänzende Aufnahmen gemacht, weil die Playbacks mit Schlagzeug, Bass und so weiter schon vorher von Bowie fertiggestellt wurden. Er hat diese Bänder von Frankreich mit nach Berlin genommen. Sie wurden dann in den Hansa Studios eingemessen und gemischt.
Wie kommt’s, dass Sie als Toningenieur von Bowies erstem Album in den Hansa Studios nicht auch den Nachfolger „Heroes“ aufnahmen?
Da bin ich in den Urlaub gefahren, daher war ich nur am Anfang der „Heroes“-Produktion dabei und dann wieder am Schluss. Das hat dann einer von unseren Assistenten übernommen, die ich ausgebildet habe. Das sind übrigens heute alles berühmte Toningenieure.
Wie liefen die Aufnahmen von Iggy Pops Album „Lust For Life“ ab?
Ich habe mich da als Recording Engineer mit Colin Thurston abgewechselt. Mir oblag etwa die Einrichtung und Mikrofonierung des Schlagzeugs, das im Studio 3 mitten im Raum stand. Das war schon sehr maßgeblich für den Sound dieses Meisterwerks.
„Iggy Pop rief: ‚Let me do it!‘“
Als ich in einer Arbeitspause ein dynamisches Mikrofon an einem E-Gitarren-Verstärker ausprobierte, stand plötzlich Iggy Pop hinter mir und meinte: „Was machst du denn da?“ Als ich sagte, dass ich das Mikrofon ausprobiere, rief er: „Let me do it!“
Er kniete sich vor den Verstärker und hat damit herumgespielt und reingesprochen und -gesungen und -gepfiffen und alles Mögliche ausprobiert. Dann kam er in den Regieraum und meinte, er möchte gern mit diesem Mikrofon aufnehmen. Dann haben wir also vor den Gitarrenverstärker ein hochwertiges Neumann-Mikrofon gestellt und haben damit für „The Passenger“ die Gesangsstimme aufgenommen. Deshalb klingt das so schön kratzig.
Buchtipp: „Low – David Bowie’s Berlin Years“
Im gerade erschienenen zweiten Band der Comic-Biografie über das Pop-Chamäleon Bowie findet sich viel Zeitkolorit. Der Zeichner und Autor Reinhard Kleist lässt hier die Epoche lebendig werden, in der Bowie mit der „Göttin des Berliner Nachtlebens“ Romy Haag auf Partytour geht. Und in der er mit Iggy Pop in die Musik der Bands Kraftwerk und Tangerine Dream eintaucht – um sich dann, in den Hansa Studios im Schatten der Berliner Mauer, einmal mehr musikalisch neu zu erfinden.
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