Yi Lin Jiang errichtet ein mystifizierendes Privatdenkmal, das liebevolle Erinnerungen an die verstorbene Mutter mit der Beschwörung eines fatalen Dreiecksverhältnisses verknüpft, das sich entspann, nachdem Johannes Brahms 1853 dem Ehepaar Schumann begegnete. Unzählige Schriften, ausgehend von den geschönten „Tagebüchern“ Clara Schumanns, haben diese regelrecht toxischen Episoden in idealisierendes Licht getaucht. Die deprimierende Sprache der Quellen will man offenbar immer noch nicht vernehmen.
Die Variationen über ein eigenes Thema op. 21 Nr. 1 – in der Tat ein viel zu selten gespieltes Werk des jungen Brahms – mögen Clara Schumann gewidmet sein, aber man darf zweifeln, ob die passionierten Moll-Variationen Züge einer wahrhaft problematischen Beziehung widerspiegeln. Auch die späten Intermezzi op. 117, „heimlich Clara Schumann gewidmet“, wie Jiang spekuliert, sind gewiss melancholische Reminiszenzen, aber weder verklausuliert autobiografisch noch Projektionsflächen für Jiangs heiter-wehmütige Kindheitsbeschwörungen. Der Pianist gibt sie vergrübelt, aber gerade im ersten allzu stockend.
Den Beschluss machen die großen Schumann-Variationen op. 23, und auch hier überbaut Jiang seine Deutung mit einem Freundschaftsdenkmal, als halle in seinem Verhältnis zu Duopartner Jacopo Giovannini etwas von Brahms’ Relation zu Schumann nach. Diese inszenierte Durchdringung des Privaten und des Interpretatorischen ist gewagt, aber pianistisch bewegt sie sich auf ähnlich gediegenem Niveau wie Jiangs vorangegangenes Album.
Matthias Kornemann