Diesmal fokussiert Imbert auf die eigene Herkunft: Oraison steht provenzalisch für „den Ort, an dem der Wind bläst“ – so heißt das Dorf in der Haute Provence, in dem Imbert aufwuchs, der heute Direktor eines Konservatoriums in Marseille sowie Leiter der Compagnie Nine Spirit ist. Die Straßen in Oraison sind nach gefallenen Soldaten und Résistance-Kämpfern der beiden großen Weltkriege benannt. Im Dorf widersetzten sich besonders viele den deutschen Invasoren, und „Straßen des Gedenkens“ heißt denn auch ein zentrales Stück dieses Albums. Über Oraison schrieb Imbert eine Suite gegen Krieg und Vergessen – eine oft leise und subtile Eloge auf die Freiheit des Denkens.
Imbert nennt „Oraison“ sein „säkulares Oratorium ohne Texte“. Noch nie klang der Saxofonist – der auch als Jazzforscher sehr aktiv ist, im Süden der USA über Freimaurer und Spirituals recherchierte und ein Buch über Spiritualität im Jazz schrieb – auf Platte so beeindruckend; sein Spiel, dem ein rauer, gesanglicher Sound innewohnt, verströmt Inbrunst. Die Musik ist mehr bei klassischen Saxofonquartetten verortet und wirkt homogener als Imberts manchmal weitschweifige Themenalben. Sein nach vielen Selbstzweifeln neu eroberter Klassizismus käme übrigens auch ohne ein Sujet aus.
Karl Lippegaus