In seinem neuen Album widmet Lisiecki, inzwischen stolze 26 Jahre alt, sich nun einer weiteren Werkgruppe Chopins, den Nocturnes. Und auch diesmal mit überzeugendem Ergebnis (und in überzeugendem Raumklang). Ziel seiner Interpretation war es offenbar, den leisen, „heimlichen“ Ton dieser stimmungsreichen „Nachtstücke“ voll zur Geltung zu bringen. Er spielt sie mit auffallend feinem, schönem Ton, beachtet sorgfältig die vielen piano, pianissimo- und piano-pianissimo-Vorschriften in den Noten, formuliert sehr geschmeidig, scheut sich auch nicht vor nachgiebigen Tempi, wenn es einzelne Stellen hervorzuheben gilt. Seine Nocturne-Darstellungen stehen damit eher in der Tradition eines Ivan Moravec als in der eines Rubinstein oder neuerdings der Leonskaja.
Mag sein, dass manch einem dieser entschieden lyrische Ansatz Lisieckis auf die Dauer einer Gesamtaufnahme etwas kontrastarm erscheint. Anfechtbar zum Beispiel auch, dass im bekannt schwierig zu gestaltenden Es-Dur-Nocturne aus dem op. 55 das einsame hohe Auftakt-B des Anfangs wie allein gelassen wirkt, weil hier die Spielintensität nicht ausgereicht hat, es in die anschließende Melodielinie einzubinden.
Insgesamt aber eine Bewertung ganz nahe an fünf Sternen. Wie lautet doch die alte Pianistenweisheit? Schnell und laut spielen ist keine Kunst, sie zeigt sich erst im Leisen. Lisiecki kann schnell, laut und leise.
Ingo Harden