Und man ist von den ersten Takten an gefesselt von Trifonovs federleichter Spielweise und seiner unvergleichlich geschmeidigen, temporeichen Eleganz und beweglichen Charakterisierung ihrer vorklassisch gelockerten, manchmal geistreichen, mitunter auch schon romantisch empfindsamen Musik. Überdies wurde kaum je seit Pogorelichs Scarlatti der große Klang des modernen Flügels so glücklich den satztechnischen Gegebenheiten dieser durchweg schlanken Stücke angepasst.
Darauf das Werk folgen zu lassen, das als „Höhepunkt der jahrhundertelangen Entwicklung der polyphonen Musik“ gilt und zu einer ganz anderen Gewichtsklasse gehört, ist zumindest ungewöhnlich. Aber Trifonov wollte offenbar zeigen, dass auch der „alte Bach“ nicht so alt war, wie man ihn immer noch oft sieht und darstellt. Dass sich seine 14 Fugen und vier Kanons emotionaler als üblich auffassen lassen, nämlich als eine „ergreifende Gefühlsreise“. Er hat dies überzeugend, ja bewegend erreicht, durch fließendere Tempi – er braucht nur gut 70 statt der üblichen 80 plus Minuten Spielzeit –, schärfere Charakterisierung, lebhaftere Phrasierung und Dynamik. Ein programmatisch und interpretatorisch gelungenes Experiment, für mich ein Anwärter auf eine Auszeichnung als Klavieraufnahme des Jahres 2021.
Ingo Harden