Natürlich bleibt bedauerlich, dass nicht diese erste Fassung eingespielt wurde, die zu den abenteuerlichsten, doch auch beeindruckendsten Werken des sinfonischen Genres schlechthin zählt. Aber dafür entschädigen die Musiker mit einer schwerlich zu übertreffenden Spielkultur. Thielemann wählt mit aller agogisch gebotenen Freiheit Tempi, mit denen sich diese Spielkultur, die Materialität des orchestralen Tönens in allen Schattierungen, voll entfalten kann.
Der Tutti-Klang des Orchesters besitzt eine Homogenität, die aus einem stufenlosen Klang-Kontinuum der Orchestergruppen erwächst. Die geschmeidig intonierenden Blechbläser grundieren den Orchesterklang unaufdringlich, ohne sich jedoch zurückzuhalten; die Holzbläser artikulieren ihre oft solistischen Stimmen mit einer Intensität der Tongebung, die auf forcierende Lautstärke verzichtet; und der wienerische Streicherglanz verleiht der Musik eine Ausdruckstiefe, die schlechterdings berührt.
Diese Spielkultur ist die Voraussetzung für ein sinfonisches Gestalten, mit welchem sich die stets kenntlich gemachte musikalische Struktur in bewegten Ausdruck verwandelt. Und selten wurde bislang deutlicher spürbar, wie sehr etwa das Trio im Scherzo den Tonfall der Mahler’schen Sinfonik antizipiert (Mahler war dann an der Erarbeitung einer dritten Fassung dieser Sinfonie beteiligt). Da darf man auf die Fortführung dieser Bruckner-Einspielung gespannt sein!
Giselher Schubert