Michael Gielen
»Musik soll Feuer aus den Köpfen schlagen«
Völlig zurückgezogen wohnt Michael Gielen im Salzkammergut, mit einem atemberaubenden Blick auf den Mondsee und die Drachen wand. Dort empfing er FONO-FORUM-Chefredakteur Björn Woll zum Gespräch. Im Exklusiv-Interview spricht er über den Sieg des Geldes und die Regression in Politik und Musik.
Vor einigen Jahren ist Ihre Au to biographie mit dem Titel »Un bedingt Musik« erschienen. Was ist für Sie die Motivation, sich ein Leben lang bedingungslos und leidenschaftlich der Musik zu verpflichten?
Ich gehe davon aus, dass jeder Musi ker seine ganze Energie in seinen Beruf steckt, das ist doch ein normaler Vorgang. Bei mir kam noch eine sehr einseitige Be gabung dazu: Ich hatte ja gar keine andere Möglichkeit. Mein einziges Talent ist, Musik zu machen.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie schon immer ein Außenseiter waren …
… was damit anfing, dass meine Mut ter Jüdin war und ich damals als so genannter »Halbjude« in der Schule in Öster reich, in diesem frischgebackenen Nazitum, automatisch Außenseiter war. Später war ich dann Außenseiter, weil ich mich mit der Musik des 20. Jahr hun derts auseinandergesetzt und das in mei nem Beruf als selbstverständliche Ver pflich tung erachtet habe. Das ist natürlich ein Außenseitertum gegenüber der Musik industrie und gegenüber den Pro gram men, die die Kollegen – je berühmter, desto konventioneller – machen.
Sie haben ebenfalls einmal gesagt, dass Ihre künstlerische Persönlichkeit nicht eben pflegeleicht ist. Womit sind Sie am meisten angeeckt – und bei wem?
Ich war vielleicht ungeschickt in meiner Art, meine Sache durchzubringen. Und vielleicht ein bisschen zu schroff oder zu hart gegenüber den Orches ter musikern. Die Ursache war, dass es früher – also bis Ende der Sechziger, An fang der Siebziger – sehr starke Widerstände in den meisten Orchestern gegen moderne Musik gab. Der Höhepunkt der Hostilität war die Haltung des Kölner Gürzenich-Orchesters bei den Proben zur Urauf führung der »Soldaten« von Zim mer mann. Das war eine offene Feind se ligkeit, die man ihnen kaum übel nehmen kann, weil sie ja im Dritten Reich er zogen worden sind: Es gab keinen Kon takt mit der Moderne bis Kriegsende. Das begann erst langsam. Günter Wand hat zum Beispiel Webern und Messiaen gespielt, als er Chef dort war, und mit seiner Autorität und Beliebtheit hat er das auch durchgebracht. Während eine kompliziertere und aggressivere Musik wie die von Bernd Alois Zimmermann große Widerstände und Ranküne in diesem Orchester provoziert hat.
Diese kompromisslose Haltung, die Sie in künstlerischen Belangen an den Tag legen, hat Ihnen den Titel »Der Un beug same« eingebracht. Sie haben nie ein Blatt vor den Mund genommen, um Miss stände anzuprangern. Wie stehen Sie zum heutigen Musikbetrieb?
Sie haben ja Recht, ich habe viel geschimpft. Auf der anderen Seite ist es doch erstaunlich, dass trotzdem ein La bel wie Hänssler sehr viele CDs mit von mir dirigierten Werken herausgebracht hat, darunter immerhin ein Mahler- und ein Beethoven-Zyklus. Allerdings muss man auch sagen, dass die Standpunkte der Industrie einen großen Sieg gefeiert haben und dass die finanziellen Interes sen im Vordergrund stehen. Das Geld ist das Wichtigste in allen Belangen auf der ganzen Welt, warum sollte es da auf dem Musikmarkt anders sein?
In einem Interview haben Sie kürzlich die Forderung an die zeitgenössischen Komponisten gestellt, dass diese keine »friedliche« Musik schreiben sollten, denn Musik müsse die Menschen »be un ruhigen«. Was meinen Sie damit?
Beethoven hat so etwas Ähnliches gesagt: Die Leu te sollen nicht weinen vor Rührung, sondern Musik soll Feuer aus den Köpfen schlagen. Doch auch in der Musik zählt das Geld heute mehr als alles andere. Karrieren werden von Fir men hochgeputscht, die eigentlich erst reifen sollen. Es gibt allzu viele Beispiele, wo es keinen Fortschritt gibt, sondern Rückschritt. Das gilt auch für die Politik, sehen Sie nur Russland. Statt dass nach Gorba tschow die Liberalisierung weitergeführt wurde, kam der Gegenschlag, und jetzt gibt es dort wieder ein totalitäres Regime. Mit China ist es dasselbe: Nach Mao konnte man erwarten, dass das Land liberalisiert wird. Aber nein, das Regime der kommunistischen Partei ist genauso rigide oder noch schlimmer geworden, weil die Erwartungen der Menschen ja ganz andere sind. Unter Mao konnte man sich eine Liberali sie rung gar nicht vorstellen. Aber inzwischen kann man sie sich vorstellen – und sie kommt nicht. So ist es auch in der Musik. Was komponiert wird, wenigstens was ich davon gehört habe, war keine Musik, die umwälzend gewesen wäre. Die eine neue, stärkere Mo dernität hineinbrächte. Im Ge genteil: Die meisten Komponisten denken regressiv. Es wird sogar wieder tonal komponiert. Solange keine Veränderung im Welt geist, in der Mentalität der Mehr heit der Menschen passiert, solange keine große Veränderung eintritt, ist das Gesamtbild einfach erschreckend regressiv. Das ist mein trauriges Fazit!
Wie sähe ein möglicher Weg aus diesem Dilemma aus?
Ich bin ja kein Prophet, und ich bin auch kein Komponist mehr. Ich war nie ein Anführer der Moderne, daher kann ich Ihnen auf diese Frage nicht antworten. Aber ich glaube, dass durch die Kom positionen von Lachenmann Türen und Möglichkeiten geöffnet wurden, die von jüngeren Komponisten wei tergeführt und entwickelt werden müssten. Das sehe ich aber nicht. Von allen ist er daher der Avancierteste, der ganz neue Möglichkeiten entwickelt hat, die Instru men te zu benutzen, und daraus ganz neue Klänge erfand.
Noch einmal zurück zu der Äußerung Beetho vens, dass die Leute nicht vor Rührung weinen sollen. Lehnen Sie das apollinische und dionysische Element in der Musik rundweg ab?
Nein, wieso denn? Die ganze Musik geschichte ist ja da. Ich selbst tendiere sogar dazu, dass mir bei der Musik von Schubert die Tränen kommen.
Man kann an Musik also nicht immer nur rational herangehen?
Überhaupt nicht. Die Musik spricht doch nicht nur das Gehirn an. Sie spricht den ganzen Menschen an, den Solar ple xus vielleicht sogar hauptsächlich – und das reflektiert sich in den Gehirnzellen. Es gibt also eine rationale Seite, die etwas mit Analyse zu tun hat – ich glaube, dass Interpreten auf jeden Fall analysieren sollten. Aber es gibt auch die emotionale Seite, doch die kann man nicht in Worte fassen.
Musik spricht also den Menschen in seiner Gesamtheit an, die Emotion und die Kognition. Dennoch haben Sie einmal gesagt, »Musik muss sich gegen die Dummheit der Welt richten«.
Das ist natürlich ein Schlagwort. Es gibt sehr viel Musik, die die Dummheit fördert. Sie ist Produkt der Dummheit, und sie fördert deshalb die Dummheit: die ganze Populärmusik zum Beispiel. Ich weiß, für viele Menschen gibt es gar keine andere Musik. Aber mich langweilt sie zu Tode. Jeden Tag hört man irgendwelche Pop- oder Rockmusik, und ich finde es so schrecklich einfallslos. Meis tens hat sie nicht einmal eine Melodie, die Rhythmik ist immer nur eins-zwei-eins-zwei. Ich finde auch, dass es eine Legende ist, dass der Jazz den Rhythmus bereichert hat: Er ist aus dem Eins-zwei-Rhythmus nie herausgekommen, die Grundlage war immer das. Und die harmonischen Stufen, die benutzt wurden, sind auch die primitivsten. Und das ist in der Popmusik genauso. Es gibt für mich nichts von Interesse in der immensen Menge von Populärmusik, die produziert und auch goutiert wird.
In Ihren eigenen Programmen versuchen Sie immer wieder, gegen diese »Dummheit der Welt« zu kämpfen, indem Sie die Hörgewohnheiten des Publi kums konterkarieren und damit neue oder vergessene Bedeutungsschichten der Musik freilegen, wie zum Beispiel mit der Montage von Schönbergs »Über lebender in Warschau« in Beethovens 9. Sinfonie. Sehen Sie darin eine politische Dimension von Musik?
Ja, zumindest eine geistespolitische. Ich glaube nicht, dass Musik auf die tägliche schlimme, korrumpierte Politik einwirken kann. Das war eine Illusion von Nono, dass Musik politisch sein kann. Aber die ganze Musik von Beethoven hat diesen aufklärerischen Gestus und etwas »Revolutionäres« gegenüber der Kon ven tion seiner Zeit. Das geht jedoch völlig verloren, weil die Kon zert pro gramme immer gleich geblieben sind: irgendeine Ouvertüre, ein Solo kon zert und dann eben eine Beethoven-Sinfo nie. Die kann gar nicht richtig lebendig werden. Es ist nun die Aufgabe des Diri gen ten, durch die innere Hal tung und die Pro gramm gestaltung einen Teil dieser ursprünglichen Energie zu wecken.
Kommen wir noch zum Jubilar dieses Jahres, Gustav Mahler, dessen sämtliche Sinfonien Sie eingespielt haben. Durch Ihren Onkel Eduard Steuer mann, den Schönberg sehr verehrte, waren Sie sehr nahe dran an der Zweiten Wiener Schule, die die Keimzelle Ihres Mu sikverständnisses ist.
Ich war von Anfang an überzeugt, dass Schönberg der bedeutendste Kompo nist des 20. Jahrhunderts ist, in einer Doppelfunktion: als Ende der Tonalität und als Anfang der Dodekaphonie. Da mit ist er vergleichbar mit Bach, der das Ende des Barock markiert, aber gleichzeitig auch den Beginn einer neuen Epo che. Also die innere Identifikation mit der Musik von Webern, Berg und Schön berg war von Anfang an gegeben.
Mit dem Ausgangspunkt Schönberg ha ben Sie sich die Musik ge schichte dann quasi rückwärts erarbeitet. Welche Aus wirkungen hat te das auf Ihre Aus einan der setz ung mit der Musik Gustav Mah lers?
Die Wichtigkeit Mahlers, die immer mehr erkannt wird, ist ja nicht die Inte gration der Populärmusik seiner Zeit, die von Bernstein als Haupt sache betrachtet wurde, wodurch das Ganze sentimentalisiert wurde. Son dern dass die Inhalte des 20. Jahrhunderts, die Schönberg spä ter als paradigmatisch herausgestellt hat, schon da sind, aber in einer Sprache, die zugänglich ist.
Welche Inhalte sind das genau, von denen Sie sprechen?
Die Vereinsamung des Menschen, die Zerrissenheit der Innerlichkeit, die Un ter jochung unter Militär und totalitäre Gedanken: Das ist alles schon unterschwellig da. Ich glaube, dass sogar der allgemeine Antisemitismus spürbar ist an einigen Stellen. In der ersten Sinfonie im dritten Satz gibt es zum Beispiel eine Gegenmelodie in den Trompeten, die fast wie jiddische Musik klingt. Das ist allerdings der einzige Moment bei Mah ler, an dem man ihn festnageln kann auf etwas Jüdisches.
Ihre Aufnahme der Sinfonien Mahlers wurde immer wieder als maßstäblich ge rühmt. Was war Ihr Interpretations ansatz?
Wie bei aller Musik, das ist bei Mahler nicht anders als bei Beethoven oder Mo zart: Transparenz ist das Allerwichtigste, dass man alles hört, was da auf der Par ti turseite steht. Und zwar entsprechend seiner Wich tigkeit. Natürlich kann man nicht alles gleichzeitig hören, aber auch Be glei tungen müssen deutlich phrasiert wer den und abgestuft sein. Also Trans pa renz, das Tempo ge fühl, das Ab wägen der Teile zueinander. Das ist uns im »Lied von der Erde« ganz gut gelungen, wie die Abschnitte eines Satzes sich zueinander verhalten, dass es ein Ganzes wird und doch unterschiedlich ist.
Stichwort »Lied von der Erde«: Warum ist die Aufnahme erst jetzt erschienen, lange nach der Box mit den anderen Mah ler-Sinfonien?
Das ist eine ganz eigentümliche Ge schichte. Wir haben das Werk dreimal aufgeführt und aufgenommen. Ent weder hat uns die Altistin nicht gefallen, oder aber die Tenöre waren nicht gut genug. Schlussendlich kam bei der Platten fir ma jemand auf die Idee, zwei Platten zu kombinieren, die von 1992 mit Jeru sa lem für die Männerlieder und die von 2002 für die Frauenlieder. Natürlich hört man, dass die Aufnahmen zu unterschied lichen Zeiten und vor allem in unterschiedlichen Sälen gemacht wurden. Die alten Mitschnitte sind noch im Rosbaud-Studio in Baden-Baden entstanden, wo die Tonmeister wirklich wahre Wunder vollbracht haben, damit die Aufnahme so klingt, wie sie klingt. Aber der Raum hat dem Klang überhaupt nicht geholfen. Die Frauenlieder sind dann in Freiburg aufgenommen worden, was immerhin ein richtiger und auch größerer Konzertsaal war.
Sind Sie dennoch zufrieden mit der Auf nahme?
(zögert) Ja … Die Deutlichkeit, selbst bei den Männerliedern, die im wirklich nicht idealen Rosbaud-Studio aufgenommen sind, ist da. Sie hören so viel von dem, was im Orchester passiert. Und das ist mein primäres Interesse, auch wenn das Publikum die Platte eher wegen Herrn Jerusalem kaufen wird. Aber ich wiederhole: Was mich daran interessiert ist, dass man sehr viele Details im Orchester hören kann und dass die Tempogestaltung – das Tempo fluktuiert ja dauernd – sehr gelungen ist. Da finde ich mich gut, und ich finde mich nicht immer gut. (lacht)
Zur Person
Michael Gielen kam am 20. Juli 1927 in Dresden zur Welt, als Sohn des österreichischen Theatermanns und späteren Intendanten des Burgtheaters Josef Gielen. Sein Onkel, der Bruder seiner Mutter Rosa Steuermann, war niemand Geringeres als der von Arnold Schönberg hochverehrte Pianist Eduard Steuermann. 1940 emigrierte die Familie nach Argentinien, wo Michael Gielen Musik und Philosophie in Buenos Aires studierte. Dort begann er auch seine Karriere als Korrepetitor am Teatro Colón. 1950 wechselte er ebenfalls als Korrepetitor an die Wiener Staatsoper. Gielen war 1960-65 Musikdirektor der Königlichen Oper Stockholm, 1969-72 Chefdirigent des Belgischen Nationalorchesters in Brüssel, 1973-76 Musikdirektor der Niederländischen Oper in Amsterdam, 1976-86 Intendant und Generalmusikdirektor der Oper Frankfurt und 1980-86 parallel Chefdirigent des Cincinnati Symphony Orchestra. 1986 übernahm er das Sinfonieorchester des Südwestfunks, der 1996 in Südwestrundfunk umbenannt wurde, und leitete es bis 1999.
Bereits erschienen
Mahler, Sinfonien 1-9, Adagio; Juliane Banse, Cornelia Kallisch, Anthony Michaels-Moore u. a., SWR-Sinfonieorchester (1988-2003); Hänssler/Naxos 13 CD 4010276014676

In Vorbereitung
Mahler, Wunderhornlieder; Christiane Iven, Hanno Müller-Brachmann, SWR-Sinfonieorchester (2011); Hänssler/Naxos CD 4010276024408 (erscheint voraussichtlich am 17. Oktober)
Buch-Hinweis
Michael Gielen: Unbedingt Musik. Erinnerungen. Insel, Frankfurt/Leipzig 2005