Con brio – das Motto des Jahres beschreibt nicht nur das diesjährige Programm, es kennzeichnet laut Veranstalter-PR auch den Cellisten Steckel. Das Festival beginnt am Mittwoch, den 30. August 2023, mit einem All-Star-Ensemble: Der Geiger Tobias Feldmann, die aus Frankreich stammende Bratschistin Lise Berthaud und Julian Steckel werden die „Goldberg-Variationen" in einer Fassung für Streichtrio spielen, durch die die Stimmen des Werkes mit reliefartiger Plastizität hervortreten.
Darauf erforscht das Duo Aliada, bestehend aus dem polnischen Saxophonisten Michal Knotund dem aus Serbien stammenden Akkordeonisten Bogdan Lakatic, unter dem Titel „East West" am 31. August die musikalischen Landschaften Europas und Amerikas. Die Musiker führen ihr Publikum in einer sehr persönlichen, emotionalen Safari zunächst durch die Jahre ihrer Kindheit und die Musik ihrer slawischen Heimatländer, bevor sie immer westlichere Kapitel ihres Reisetagebuches aufschlagen, um endlich bei Chick Corea und George Gershwin zu landen. Ein grenzüberschreitender Abend, der virtuose Naturgewalten entfesseln wird.
Am Freitag, den 1. September, gibt das spanische Cuarteto Quiroga sein vielsaitiges Festivaldebüt. Die vier Spanier beginnen den Abend mit einem Streichquartett ihres Landsmannes Manuel Canales (1747–1786), der in den Diensten des Herzogs von Alba die Kammermusik seiner Zeitgenossen Joseph Haydn und Luigi Boccherini studieren konnte und seine eigenen schöpferischen Schlüsse daraus gezogen hat. Ein mächtiger Sprung befördert uns ins 20. Jahrhundert: zu Béla Bartóks Streichquartett Nr. 3 aus dem Jahre 1927, einem radikalen Werk des Ungarn, den seine Volksliedstudien denkbar weit von jeder Postkarten-Idyllik geführt haben. Zum Ausklang ihres ersten Füssener Konzertes spielen die Quirogas mit Felix Mendelssohns Streichquartett in Es-Dur op. 12 eines der schönsten Quartette der frühen Romantik.
Tags drauf, am 2. September, interpretiert das spanische Ensemble das erste Streichquartett des Argentiniers Alberto Ginastera, der in der Volksmusik seines Heimatlandes offenbar ähnliche Prinzipien entdeckte wie sein ungarischer Kollege in der alten Welt: Seine Schlussfolgerungen kommen zu einem Vokabular, das Bartók und Igor Strawinsky nicht unähnlich ist; die Rhythmik freilich ist nicht diejenige der magyarischen Hirten, sondern ihrer wilden, die Bola und den Lasso schwingenden Kollegen aus Südamerika. Ein zweites Werk des, bei uns noch immer etwas unter Wert gehandelten Alberto Ginastera bringt einen liebgewordenen Bekannten in den Kaisersaal des Klosters St. Mang zurück: Matthias Kirschnereit spielt die erste Klaviersonate op. 22 des Komponisten, deren temperamentvolle Sprache eine eindeutige Aussage trifft – dass man alle zwölf Töne auch gewinnreich nutzen kann, ohne sie deshalb in eine Reihe zwingen zu müssen. Am Ende des Konzerts erweisen sich Matthias Kirschnereit und das Cuarteto Quiroga als eine vorzügliche Symbiose: Das Klavierquintett Es-dur op. 44 von Robert Schumann, vermutlich das erste seiner Art im 19. Jahrhundert, beschließt mit symphonischer Größe einen faszinierenden Abend.
Ein Festival vielsaitig ohne Meisterkurse? Das ist unmöglich. Und so stellen sich die jungen Musiker, die die Kurse von Julian Steckel, Matthias Kirschnereit oder der Geigerin Karen Gomyo absolviert haben, auch in diesem Jahr, genauer: am Montag, den 4. September, mit der Essenz ihres reichen Lernstoffes vors Publikum.
Karen Gomyo ist in Deutschland noch ein Geheim-Tipp: Die in Tokio geborene Geigerin begann ihre musikalische Karriere in Montréal und New York und lebt seit kurzem in Berlin. Die Chicago Tribune lobte sie als „ ... eine erstklassige Künstlerin mit echter musikalischer Kontrolle, Beherrschung, Vitalität, Brillanz und Intensität". Diese Tugenden (und nicht nur diese) wird sie zunächst in der Violinsonate A-dur von César Franck entfalten, bei deren Wiedergabe sie von Paul Rivinius begleitet wird. Dieser widmet sich anschließend im Zusammenspiel mit Julian Steckel der großen und singulären Cellosonate von Claude Debussy – bevor die Künstlerin und ihre Kollegen ihre gemeinsamen Taten am 5. September mit dem ersten Klaviertrio H-dur op. 8 von Johannes Brahms in schwelgerischer Hochromantik ausklingen lassen.
Am Mittwoch, den 6. September, folgt ein kammermusikalisches Konzertereignis, wie man es selbst in dem vielsaitig nutzbaren Kaisersaal nicht alle Festivaltage vorkommt. Der Geiger Sergey Malov hat gleich eine ganze Instrumentenfamilie im Gepäck, und diese Klanggeräte – Violine, Bratsche, Barockvioline, E-Geige – dienen nicht nur als Bühnendekoration: Ein Defilee von Barock, Klassik, Romantik über Moderne bis Volksmusik und Jazz steht auf dem Programm des Künstlers, der überdies das Violoncello da spalla beherrscht, eine Art Schultercello, für das Johann Sebastian Bach, wie man sich erzählt, seine sechs Solosuiten geschrieben haben soll.
Als Markenzeichen des Duos BartolomeyBittmann könnte der Löwenkopf dienen, der das von David Tecchler gebaute Violoncello ziert. Mit Respekt vor dem Klang ihrer Instrumente Violoncello, Violine und Mandola, mit Lust am gemeinsamen Entwickeln neuer Klangbilder, mit Spontanität und Improvisationskunst verbinden die beiden Musiker intim groovende bis hin zu kraftvoll rockende Elemente zum „con brio" (8. September).
Der Abschluss des diesjährigen Festivals ist nicht viel-, sondern ganz präzise: sechzehnsaitig. Der neue künstlerische Leiter Julian Steckel hat für Samstag, den 9. September, gleich drei Zunftgenossen von internationalem Format und Renommee eingeladen: die Brüder Thomas und Patrick Demenga sowie ihren gemeinsamen Kollegen Christian Poltéra. Die Vier bilden ein Ensemble, dem augenscheinlich keine Grenzen gesetzt sind: Vom französischen und deutschen Barock über Niccolò Paganini bis zu den Klassikern des späteren 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts (Dutilleux, Lutosławski, Berio, Halffter) reicht der Bogen, der ein unglaubliches Finale in Peter Tschaikowskis „Rokoko-Variationen" findet – die freilich nicht von einem Solocellisten und einem Kammerorchester, sondern von vier Celli im munteren Quartettspiel bestritten werden. Thomas Demenga hat dieses Arrangement verfasst, das zu einer Hymne an den herrlichen, vielsaitigen, warmen Klang des Instruments geraten ist.
Vielsaitig wie die Konzertprogramme und Formationen sind die traditionellen Begleitveranstaltungen des Füssener Festivals: Der Treffpunkt Geigenbau lädt einmal mehr zu Besichtigung und Gedankenaustausch ein, mehrere Vorträge sowie eine Ausstellung über Streich- und Zupfinstrumentenbauern aus dem Allgäu und aus Cremona bieten wie stets mannigfaltige Anregungen und Einblicke.
Sie alle sind herzlich eingeladen, die romantische Vielfalt unserer Stadt und ihre bewegte, reiche Musikgeschichte zu ergründen, auf die das Festival vielsaitig con brio neugierig macht.