Die 60. Edition des Jazzfest Berlin (2. bis 5. November) gibt Raum für das Spielerische und Intuitive in der Musik und bringt in 36 Projekten unterschiedliche Generationen zusammen. Die ganz junge Generation steht dabei gleich zu Beginn im Zentrum des Geschehens: Im Jazzfest ImproCamp wird Kindern bereits im Vorfeld zum Festivalstart ab Beginn der zweiten Herbstferienwoche sowie beim Festival selbst ein interdisziplinärer Zugang zur Improvisation ermöglicht. Und bei der Eröffnung des Konzertprogramms im Haus der Berliner Festspiele sind zwei Berliner Kinderchöre an der Auftragsinszenierung „Apparitions“ beteiligt, die von den französischen Musikern Antonin-Tri Hoang und Romain Clerc-Renaud speziell für diesen Kontext adaptiert wurde – eine der zahlreichen Uraufführungen und Deutschlandpremieren beim Festival.
Zu den etablierten Künstlern im Programm, die – aus unterschiedlichen Traditionslinien kommend – seit 60 Jahren die Geschichte der Improvisationsmusik prägen, gehört der Komponist, Saxofonist und Flötist Henry Threadgill (US) mit einer Auftragskomposition für sein Ensembles Zooid und die Berliner Formation Potsa Lotsa XL von Saxofonistin Silke Eberhard. Die Einladung in diesem Jahr knüpft an die lange Linie szeneübergreifender künstlerischer Zusammenarbeiten mit Leitfiguren der Chicagoer Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM) der letzten Festivalausgaben an. Neben sechs weiteren internationalen Kooperationen mit Berliner Beteiligung steht das Projekt zudem exemplarisch für das Selbstverständnis des Jazzfest Berlin als Plattform für künstlerische Begegnungen zwischen internationalen Größen und der Avantgarde der Berliner Szene.
Darüber hinaus steht der ursprünglich im Experimental Rock beheimatete Pionier der Freien Improvisation Fred Frith (GB) erstmalig mit Trompeterin Susana Santos Silva (PT) und Schlagzeugerin Mariá Portugal (BR) in einem generationenübergreifenden Trio auf der Bühne. Alexander von Schlippenbach (DE)und Aki Takase (JP) schöpfen vierhändig aus dem kreativen Fundus von gemeinsam über 100 Jahren gelebter (Free) Jazz-Geschichte. Andrew Cyrille (US), dessen erster Auftritt bei den Berliner Jazztagen mit Pianist Cécil Taylor mehr als 50 Jahre zurückliegt, teilt sich in einer Europapremiere seines Duos mit Bill McHenry (US) den Abschlussabend mit gleich zwei weiteren Ikonen: Der diesjährige Albert-Mangelsdorff-Preisträger Conny Bauer (DE), DDR-Freejazzer der ersten Stunde, lässt im Trio mit Hamid Drake (US) und William Parker (US) langjährige Verbindungen zwischen den US-amerikanischen und (Ost-)Berliner Avantgarde-Szenen aufleben und Joyce Moreno (BR), eine der Vorreiter*innen der progressiven Tradition kreativer brasilianischer Populärmusik, präsentiert in einer Live-Performance ihr bislang unveröffentlichtes und erst kürzlich als Album erschienenes Songmaterial aus den 1970er-Jahren „Natureza“.
Dass weibliche Stimmen von der Musikgeschichtsschreibung viel zu oft überhört worden sind, stellt auch eine Arbeit von Nancy Mounir (EG) beim Jazzfest Berlin eindrücklich unter Beweis, die sich mit Sänger*innen im liberalen Ägypten der 1920er-Jahre beschäftigt. Die große Vielfalt der menschlichen Stimme wird in der diesjährigen Festivalausgabe in gleich zehn Projekten aus der ganzen Welt hörbar. Neben Joyce Moreno und Nancy Mounir zeigt sich zum Beispiel Komponistin und Sängerin Ellen Arkbro (SE) mit Pianist Johan Graden in ihrem aktuellen Kollaborationsprojekt von einer tief melancholischen Seite und die in den Niederlanden lebende Komponistin, Sängerin und Kontrabassistin Fuensanta (MX) trägt mit ihrem Ensamble Grande zeitgenössisch gebrochene Echos auf die traditionellen Klänge ihrer mexikanischen Heimat nach Berlin.
Weiblich geprägt ist auch die große Bandbreite an starken Musiker*innen der jüngeren Generation im diesjährigen Programm, darunter die Trompeterin und Jazz-Avantgardistin Steph Richards(CA), das Kollektiv Irreversible Entanglements mit Spoken-Word-Künstlerin Camae Ayewa (US) alias Moor Mother, die Gitarristin Mary Halvorson (US) mit der Pianistin und Komponistin Sylvie Courvoisier (CH) sowie die von Joshua Abrams ins Leben gerufene Natural Information Society (US) in einem Chicago-Feature unter dem Titel „Sonic Dreams: Chicago“ u. a. mit Mike Reed‘s (US) The Separatist Party (US) und Bitchin Bajas (US). Weiterhin im Programm vertreten sind nicht nur zwei der interessantesten aufstrebenden Freejazz-Saxofonistinnen, die im ländlichen Tennessee aufgewachsene Zoh Amba (US) und die aus Buenos Aires stammende Wahlberlinerin Camila Nebbia (AR), sondern auch drei der spannendsten frei improvisierenden Pianistinnen Europas mit ihren jeweils eigenen Projekten: Marta Warelis (PL), Marlies Debacker (BE) und Kaja Draksler (SI) mit der Deutschlandpremiere ihres neuen Projekts „matter 100“. Und die französische Pianistin Eve Risser (FR) präsentiert mit ihrem Red Desert Orchestra das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit Musik aus Westafrika. Für die kreative Energie einer neuen Generation von Musiker*innen aus Norwegen stehen im diesjährigen Programm die Saxofonistin Marthe Lea (NO) und der Klarinettist Andreas Røysum (NO), der dieses Jahr mit seinem Ensemble das Abschlusskonzert des Festivals im Quasimodo gibt.