Plattensüchtig

Wo machen Schallplattensammler die besten Funde? Wie ordnen sie ihre Regale? Wie kriegen sie den Schmutz aus den Rillen? Wie ging’s los mit ihrem Sammeln? Wie besessen sind sie wirklich? Antworten auf diese (für Vinyl-Junkies) überlebenswichtigen Fragen liefern sieben Sammler: In Jürgen Schmichs Buch „Plattensüchtig“ erzählen sie in sieben Interviews vom Glück und vom Wahnsinn ihrer Sammelleidenschaft. Alle sind sie vom gleichen Virus infiziert, hochgradig plattensüchtig – wie sie sammeln und was sie sammeln ist aber ziemlich verschieden. Die Gespräche liefern Portraits der Sammler, führen in die Details der Sammelgebiete (von Jazz bis Techno, von Stones bis Schlager) und enden jeweils mit einem Schnelldurchlauf durch die Sammlung, mit 13 immer gleichen Fragen: die erste selbst gekaufte Platte?, die wertvollste?, die rarste?, die peinlichste?, der beste Fund?, Lieblingscover? und so weiter.

Die Interviews sind der zweite Teil des Buches. Im ersten Teil gibt’s eine Einführung ins Thema, mit Basiswissen, aber auch mit spezielleren Infos für Insider: über die Abgründe der Sammlerseele, Bootlegs, Reinigungsrituale, Ordnungssysteme, Bewertungssysteme, über Plattenläden, Plattenbörsen, Plattencover, na ja, eigentlich über alles.

Jürgen Schmich: Plattensüchtig – 168 Seiten mit Schwarz-Weiß-Fotos, Preis: 22 EUR, innerhalb Deutschlands versandkostenfrei über www.plattensuechtig.de oder über den Buchhandel (ISBN 978-3-00-036732-8)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlichen wir hier einige Auszüge aus dem Buch.

Auszug aus der Einleitung:

Wie will man einem normalen Menschen das erklären? Dass man sich das Hirn zermartern kann mit der Frage, ob Elvis Presley unter E oder unter P im Regal stehen soll. Dass man 280 Euro für eine zerkratzte Vinylplatte hinblättert, auf der nichts anderes zu hören ist als auf einer CD für 14,95. Dass man den lieben Gott anfleht, er möge einem den Weg zur Erstpressung der zweiten Seeds-Single weisen.

Der normale Mensch wird dafür nicht mehr als ein Achselzucken übrig haben, ein mitleidiges Lächeln vielleicht. Er hat schließlich seinen MP3-Player vollgeladen mit Tausenden Songs und ist zufrieden damit. Erstpressung? Was ist das?

Gehen wir also mal davon aus, dass Schallplattensammler nicht ganz normal sind. Aber wie verrückt sind sie wirklich?

Am Anfang jeder Sammlergeschichte ist von Verrücktheit noch nichts zu spüren. Am Anfang steht die erste eigene Platte. Vom Taschengeld gekauft, vom großen Bruder geerbt, von Mama zum Geburtstag geschenkt. Musik aus den 80ern, 70ern, 60ern, aus jenen Jahren, in denen die meisten Sammlergeschichten beginnen. In denen man mit 150 Watt aus seiner Stereoanlage mehr protzen konnte als mit 150 PS. In denen Musik in schwarzes Vinyl gepresst und noch nicht in Einsen und Nullen zerlegt aus dem Internet heruntergeladen wurde.

Ihre erste Platte vergessen die wenigsten. Sie gehört zu den Teenagerjahren wie der erste vorsichtige Kuss, die erste heimliche Zigarette, der erste Kater. Es kann eine Platte sein, mit der man Jahrzehnte später noch angibt: „Meine Erste? ‚Blitzkrieg Bop’, Ramones, ich war mit 12 schon Punk.“ Oder für die man sich vier Wochen später in Grund und Boden schämte: „Meine Erste? Ähm, irgendwas von den Bay City Rollers, weiß nicht mehr so genau, hab sie verschenkt.“

Zur ersten Platte kommen die nächsten. Irgendwann sind’s zehn, fünfzig, hundert, ein paar Singles, ein paar LPs. Kraut und Rüben. Eine harmlose Ansammlung von Musik.

Manchen reicht das nicht. Das sind Typen, die extremer sind, wenn’s um Musik geht. Die haben nicht nur gleich am Erscheinungstag die neueste Single einer obskuren französischen Psychedelic-Band auf dem Plattenteller, sondern kennen auch die im Coverfoto versteckten Botschaften. Unter der Schulbank übersetzen sie Songtexte, auf Konzerten stehen sie in der ersten Reihe, sie hängen in Plattenläden rum, üben sich auf der Gitarre die Finger blutig und strafen alle mit Verachtung, die keine wandelnden Rocklexika sind. Sie sind absolut besessen von Musik und auf einem guten Weg, Sammler zu werden.

Was ihnen noch fehlt, was jemanden wirklich zum Sammler macht, hat mit Musik nichts zu tun. Es beginnt damit, dass man seine Platten nicht mehr irgendwie im Regal stehen haben will und auch nicht irgendwie geordnet, sondern, dass man nachdenkt – lange, lange, lange darüber nachdenkt, ob es richtig ist, sie von A bis Z zu ordnen, oder ob es richtiger wäre, sie nach Musikstilen zu ordnen. Man erträgt es auf einmal nicht mehr, seine Platten ohne Schutzhüllen aufzubewahren. Man rastet aus, wenn die Freundin einen Fingerabdruck auf dem Vinyl hinterlässt. Die Schallplatte als Gegenstand wird wichtig, genauso wichtig wie die Musik, die auf ihr zu hören ist.

Das Sammler-Gen zeigt jetzt Wirkung. Sammelgebiete werden definiert. Suchlisten erstellt. Die Zeit des wahllosen Kaufens ist vorbei. Wer einen halben Meter Reggae im Regal hat, aber von Black Uhuru keine einzige Platte, von Lee Perry nichts aus den 60ern, der muss sich die Sachen beschaffen. Weil sie einfach in eine Reggae-Sammlung gehören. Wie die Musik gefällt, interessiert erstmal nicht. Entscheidend wird der Besitz der Platte. Ihr Platz innerhalb der Sammlung. Die Lücke, die sie füllt. Das Schlimme: Während andere Leute Regale voll mit Platten sehen, sieht der Sammler nur Lücken, überall, zwischen jeder einzelnen Platte. Und mit jeder Platte, die er von der Suchliste streicht, tun sich neue Verästelungen im vinylen Universum auf und es kommen drei neue Platten auf der Liste hinzu. Und natürlich will er nur noch die originalen Ausgaben. Natürlich nur in tadellosem Zustand. Sisyphos hatte es auch nicht schwerer. Dabei soll keiner denken, dass Sammler Masochisten sind. Nach der raren Single zu suchen, nicht sie zu finden, ist das eigentliche Vergnügen. Auch die schiere Masse an Schallplatten bringt nur wenige aus der Fassung. „Wie viele Platten willst du dir denn noch kaufen?“, fragen die Freunde, die’s nur gut mit einem meinen. „Die kannst du doch gar nicht alle hören.“ Antwort: Es ist beruhigend, zu wissen, dass sie da sind, dass ich sie hören könnte, wenn ich wollte. Das reicht.

Nein, ganz normal ist das nicht. Aber finden wir in der Tiefe der Sammlerseele Gründe, warum er so ist, wie er ist? Betrachtet man die Besessenheit beim Jagen, die Rituale im Umgang mit den Sammelobjekten, die Lust und Akribie beim Archivieren und Verwalten der Sammlungen, unterscheiden sich letztendlich die Sammler von klassischer Musik nicht von denen, die Techno sammeln, nicht von Briefmarkensammlern oder von denen, die auf die Suche nach seltenen Käfern gehen. Alle Sammler sind vom gleichen Virus befallen. Nur von welchem?

Vielleicht spielen die aus der Steinzeit überlieferten Instinkte des Jagens und Sammelns eine Rolle. Vielleicht stimmt auch die Theorie, der Sammeltrieb werde in der frühkindlichen analen Phase geprägt, in der das Kind durch Zurückhalten und Ansammeln der Exkremente versucht, Verlustangst zu bewältigen. Eine Strategie, die sich im Leben des Erwachsenen auf andere Objekte übertragen kann. Soll heißen, wer als Zweijähriger auf dem Topf nichts hergeben wollte, der kann sich mit 20 nicht von Schallplatten trennen. Andere Theorie: Zu wenig Mutterliebe, zu wenig Zuneigung. Das Kind sucht nach einem Ersatz und findet ihn in Dingen, die es berühren, festhalten kann. Eine Erfahrung, die sich eingräbt. Dinge erlangen für den Erwachsenen symbolische Bedeutung. Sie schützen ihn vor neuen Ängsten und Enttäuschungen. Noch ein Erklärungsversuch: Sammler leiden womöglich unter einem Mangel an Serotonin, dem „Glückshormon“. Die Folge können Depressionen und Zwangsneurosen sein. Der Zwang zum Beispiel, alle jemals erschienen Dylan-Live-Bootlegs besitzen und sie nach Aufnahmeorten von West nach Ost ordnen zu wollen.

Schallplattensammler wollen Ordnung schaffen. Das Leben ist kompliziert genug. Von der Welt gar nicht zu reden. Die Sammlung dagegen ist für sie eine Insel der klaren Strukturen. Sie alleine entscheiden, welche Platte es wert ist, aufgenommen zu werden, welche nicht. Nur sie bestimmen und nur sie verstehen, welche wie und wo und warum im Regal zu stehen hat. Die Systematik einer Sammlung mag noch so verworren scheinen – für den, der sie sich ausgedacht hat, könnte sie nicht einfacher und logischer sein.

Die Sammlung wird zum Spiegel der Person des Sammlers. Er führt damit sein persönliches Tagebuch. Jede neue Platte ein neuer Eintrag. Dokument auch der Verirrungen, der Kurskorrekturen. „Der Soundtrack meines Lebens“, wie der Sammler so schön sagt.

Viel mehr noch wird mit der Sammlung auch ein Statement abgegeben: Was ich sammle, das bin ich. Schert euch zum Teufel mit euren neumodischen iPods, ich sammle Vinyl. Die Arctic Monkeys sind mir zu mainstream, ich sammle Barry Manilow. Kontra an alle, die sich für cool halten. Der Schallplattensammler darf sich in seiner Außenseiterrolle wohlfühlen. Er ist viel cooler.

Wer sich interessiert, wer neugierig ist, wer von ihm wissen will, was denn da so cool ist, der bekommt Antworten ohne Ende. Sammler wollen ihre Platten vorspielen. Noch lieber aber wollen sie über ihre Platten reden. Nachfragen sind ihnen am allerliebsten. Je tiefer die gehen, umso mehr funkeln die Augen, umso mehr können sie ihr Expertenwissen loswerden.

Dass dem Sammler in der Realität meist Desinteresse entgegenschlägt, nimmt er hin. Zum Problem wird das nur in einem – nicht unwichtigen – Fall: die Beziehung zu seiner Freundin oder Frau.

Okay, es soll auch Frauen geben, die Vinyl horten. Aber dass Plattensammeln eine typische Männerkrankheit ist, wird keiner bestreiten. Auch kein Mann. Er hält Frauen gar nicht für fähig, die nötige Besessenheit zu entwickeln.

Sie sind fähig, Portishead zu vergöttern, kaufen sich jedes Album, seltene Singles, jeden Remix, aber damit ist auch gut, weil sie Fans der Musik sind und die Musik ihnen genügt. Männer, die auf Portishead stehen, kaufen sich jedes Album, seltene Singles, jeden Remix, sind damit aber noch lange nicht zufrieden und schauen im Booklet, wer der Toningenieur war und überlegen, ob sie nicht eine Sammlung starten mit allen Aufnahmen, bei denen er hinter dem Mischpult gesessen hat, sie beginnen zu recherchieren, erstellen die erste Suchliste und kommen durch den Toningenieur auf die nächste Band, auf die nächste Sammlung.

Eine Frau, die diesen Wahnsinn nicht nur toleriert, sondern sogar ein wenig Verständnis dafür aufbringt, ist nicht einfacher zu finden als ein ungespieltes Original der ersten Faust-LP. Lässt sie sich auf die Liebe zu einem Plattensammler ein, wird sie einiges erdulden müssen: „Du kannst deine CDs hinstellen, wo du willst, aber nie, nie, niemals in mein Plattenregal.“ „Tut mir leid, Schatz, an dem Tag können wir nicht heiraten, da ist Plattenbörse.“ „Wir haben keinen Platz für ein neues Sofa, wir haben ja kaum Platz für die neuen Lautsprecherboxen.“

Sie wird aber auch belohnt. Mit dem schönsten Liebesbeweis, den ein Schallplattensammler abliefern kann: eine eigens für sie zusammengestellte Compilation-CD mit den ausgefallensten Schätzen der Sammlung. Kein Bett aus Rosen und kein Candellight-Dinner könnte dieses Geschenk aufwiegen – zumindest nach Ansicht des Sammlers.

Seien wir also gnädig mit den Plattensammlern. Sie können gar nicht anders. Sie sind getrieben von der Jagd nach raren Stücken. Das Glück des besonderen Fundes währt nur kurz. Schnellstens brauchen sie einen neuen Kick, eine neue, noch seltenere Platte, nach der sie graben können. Sammeln als eine Droge, bei der ständig die Dosis erhöht werden muss. Aber wer nicht süchtig nach Platten ist, sollte sich auch nicht Plattensammler nennen. Es geht eher darum, zu lernen, mit der Droge umzugehen.

Klar, es gibt auch welche, die das nicht hinkriegen. Die mal schnuppern am Vinyl, abhängig werden und im Endstadium jede Kontrolle über das alltägliche Leben verlieren. Nerds, seltsame, verschrobene Sonderlinge, die lieber hungern, als auf eine seltene Schallplatte zu verzichten, die ihr Zimmer nur verlassen, um sich neuen Stoff zu besorgen, die sich fast nur noch über und mit Vinyl unterhalten. Aber mal ehrlich: Das sind doch Ausnahmen, oder?

Auszug aus dem Interview mit dem Beatles-Sammler Edmund Thielow:

Jürgen Schmich: Herr Thielow, Sie sind in Greifswald, in der ehemaligen DDR, aufgewachsen. Das lag im so genannten „Tal der Ahnungslosen“, in dem man kein Fernsehen und kein UKW-Radio aus der Bundesrepublik empfangen konnte. Was haben Sie von der Westmusik dort überhaupt mitbekommen?

Edmund Thielow: Es gab einen dänischen und einen schwedischen Sender, die jedoch nur bei katastrophalem Wetter und Nebel durchkamen. Ansonsten habe ich hier einen Soldatensender gehört. Das war ein Propagandasender, in dem Westmusik lief. Der hat aus der DDR raus in die BRD gesendet, um die auf der anderen Seite politisch zu beeinflussen. Dadurch konnten auch wir diese Musik hören. Das war Ende der 60er, Anfang der 70er. Richtig bewusst habe ich Musik erst ’68 gehört, mit 14 Jahren. Irgendwann kam auch Radio Luxemburg, an denen orientierten wir uns besonders. Samstags nachmittags lief „Die großen Acht“, das haben wir auf Tonband aufgenommen. Die Texte von den Liedern haben wir nach Gehör mitgeschrieben, immer zu zweit, abwechselnd, jeder eine Zeile, weil so schnell gesungen wurde. Bei späterer Prüfung hat man schon gemerkt, dass wir einiges falsch verstanden hatten. Aber es klang zumindest richtig. Wir hörten alles, was in dieser Zeit üblich war: Beatles, Stones, Pink Floyd, Led Zeppelin, Deep Purple, Kinks, Lords, Rattles. Wir haben auch Plattenabende zusammen gemacht. Wenn einer etwas Neues hatte, haben wir uns getroffen, die Musik zwei-, dreimal in Ruhe angehört und anschließend darüber geredet, wir haben uns mit dieser Platte richtig beschäftigt.

Mitte der 60er verlangte der Staatsratsvorsitzende Ulbricht von seinen Genossen, dass man „mit der Monotonie des Je-Je-Je und wie das alles heißt“ Schluss machen solle. Man müsse doch nicht „jeden Dreck, der vom Westen kommt“ kopieren. Aber war das „Yeah, Yeah, Yeah“ der Beatmusik in der DDR wirklich aufzuhalten?

Ein paar Jahre wurde die Beatmusik untersagt. Das hielt allerdings nicht lange. Ende der 60er war man schon toleranter. Die Einflüsse aus dem Westen waren ständig vorhanden. Durchs Fernsehen, durch die Medien überhaupt. Wenn die da oben ehrlich zu sich selbst gewesen wären, hätten sie gemerkt, dass sie nicht ihr eigenes Ding machen können, obwohl sie’s immer wieder versucht haben. Die Beatles waren einfach die Größten, da konnte keiner was dagegen machen.

Können Sie sich an Ihre erste Platte erinnern?

Als ich ’75 mein erstes Geld verdiente, habe ich mir meine erste Platte gekauft. Das war eine Collection-LP, „Silence Is Golden“ von den Tremeloes. Eine Intershop-Ausgabe. Das heißt, eine Westplatte, die in der DDR hergestellt und in den Intershops verkauft wurde. Mit einer eigenen Bestellnummer und auf dem Label stand GEMA – die bundesrepublikanische Urheberrechtsgesellschaft – und nicht, wie auf den DDR-Platten, AWA. Die kostete um die 20 D-Mark. Bezahlt wurde mit Geld, das Westverwandte da gelassen hatten.

1976 sind Sie von Greifswald ins sächsische Glauchau gezogen. Wie haben Sie das erlebt, als Sie plötzlich das Westfernsehen einschalten konnten?

Die erste Zeit habe ich nur Fernsehen geguckt. Für mich war das ein totaler Kulturschock. Wenn man damit nicht groß geworden ist – das war einfach eine andere Welt. Was man in den Musiksendungen sehen konnte, war fantastisch. Disco mit Ilja Richter lief damals, vom Beat-Club gab’s die Wiederholungen. Es war schon wie Tag und Nacht. Man kann sich das nicht vorstellen, wenn man das nicht erlebt hat. Aber man wurde auch über manche Sachen nachdenklicher. Ob das jetzt politische oder materielle waren. Dass man im Westen nicht alles geschenkt bekommt, das war einem schon klar.

1975 also die erste Platte, dann kam die zweite, die zwanzigste, die zweihundertste. Damit ist man aber noch lange kein Sammler. Wann war bei Ihnen dieser entscheidende Punkt, als Sie ernsthaft damit angefangen haben?

Ich würde sagen 1980, als mir ein Freund das Buch „5000 Beatles-Platten aus 50 Ländern der Welt“ geschickt hat. Bis dahin hatte ich jede Platte, die mich interessierte, gekauft. Nicht nur Beatles, auch viel von Pink Floyd, Led Zeppelin, Deep Purple oder den Stones. Als ich jedoch in dem Buch gesehen habe, was es weltweit von den Beatles gibt, wurde das Plattenkaufen zu einer Geldfrage. Ich sagte mir: Jetzt geht bloß noch eins, jetzt sammelst du nur noch Beatles und orientierst dich an diesem Buch. Daraus hat man erst erfahren, dass es unterschiedliche Hüllen gibt, unterschiedliche Labels. Auf solche Sachen hat man vorher nicht groß geachtet. Ab da konnte ich mir die Platten zielgerichtet aus der ganzen Welt besorgen – oder besser gesagt, tauschen.

Konnte man sich denn aus dem Ausland die Platten problemlos schicken lassen?

Beatles ja. Ich habe immer gesagt: Wer Beatles verbietet, verbietet auch Bach. Für mich ist das Klassik. Ich hatte in fast jedem Land der Welt einen Tauschpartner. Ob das nun Brasilien, Neuseeland, USA oder sonst wo war. Ich wollte von denen die Westplatten und die wollten unsere Ostblockpressungen. Die Platten kamen sogar bei mir an, wenn nur „Glauchau“ drauf stand und kein Name. Dann habe ich eine Karte gekriegt und musste „zur Klärung eines Sachverhaltes“ zu dieser gewissen Behörde – der Staatssicherheit – und die haben mich nur gefragt, ob ich einen Bekannten in Kanada hätte, der mir Platten schickt. Aber ich habe nie Ärger mit denen gehabt. Für eine Fanzeitung in den USA war ich sogar „East German Correspondent“ und habe darüber geschrieben, was im Ostblock Beatles-mäßig passierte.

Theoretisch konnte man in den Plattenläden auch Lizenzausgaben von Westplatten kaufen. Wie sah das in der Praxis aus?

Die Originalplatten waren bei uns „Bück-dich-Ware“, wie man so sagte. Das heißt, die Ware lag nicht aus, die gab’s unterm Ladentisch. Mittwochs wurde unser Schallplattenladen von dem Plattenlabel Amiga aus Berlin beliefert. Und manchmal hieß es: Diesen Mittwoch kommt eine Lizenzplatte, also eine Platte mit Westmusik. Nicht jeder wusste Bescheid. Man musste den vom Plattenladen schon kennen, hat ihm ab und zu was gegeben, mal eine Flasche Schnaps rüber gestellt, damit er das einem sagte. Was für eine Lizenzplatte das genau war, die geliefert wurde, wusste kein Mensch. Aber es stand jeder an, um so eine zu kriegen. Denn die gab’s nur an dem einen Tag. Wenn die den Laden um 14 Uhr aufgemacht hatten, konnte man davon ausgehen, dass die Platte um 15 Uhr ausverkauft war. Selbst wenn es nachher eine von Roy Black war, erstmal wurde gekauft. Weil man die ja vielleicht mit einem Roy-Black-Sammler tauschen konnte, der irgendwann eine Beatles gekriegt hatte. Regulär hat eine LP 16 Mark 10 gekostet. Wenn ich aber zum Beispiel eine Elvis-Platte gekauft hatte und aus dem Plattenladen raus bin und draußen sagte einer, dass er Elvis-Fan ist und die unbedingt haben möchte, dann hat er mir mindestens 32 Mark gegeben. Man konnte damals insofern nicht in den Plattenladen gehen und sagen, man hätte gern die „Collection“ von den Beatles oder eine Platte von Elvis Presley. Die hätten nur gesagt: „Ja, versuch das in zwanzig Jahren noch mal.“

Konnte man die richtigen, originalen Westplatten auf dem Flohmarkt bekommen?

Flohmärkte wurden vom Staat toleriert. Damit wurde sozusagen der Konsum befriedigt. Der Staat musste dafür kein Geld ausgeben und die Platten, die aus dem Westen rüber kamen, liefen ja durch den Zoll. Es war daher nichts dabei, was als staatsfeindlich angesehen wurde. Auf dem Flohmarkt sind einige steinreich geworden. Leute, die Westbeziehungen hatten. Die haben mehrere Kisten hingestellt und pro Platte 100 Mark genommen. Es brauchte einer bloß acht Platten verkaufen und hatte schon mehr als meinen Monatsverdienst von 720 Mark. Ich habe aber nicht überlegt und ihm die 100 Mark sofort gegeben, wenn ich die Platte noch nicht hatte. Ich habe auf dem Flohmarkt gekauft, was ich von den Beatles kriegen konnte. Also aus Ländern, in denen die Westmark was zu sagen hatte: Frankreich, England, BRD oder Italien. Bis Ende der 80er gingen die Preise hoch bis auf 150 Mark für manche Platten. Jetzt bekommt man die auf dem Flohmarkt für drei Euro. Aber ich war nicht neidisch auf die, die verkauft haben, sondern ich war froh, dass ich sie kannte. Einer hat mir zum Beispiel das „Wedding Album“ aus Japan besorgt. Das ist das Hochzeitsalbum von John und Yoko, eine sehr seltene Platte. Die wurde mir seitdem nie wieder angeboten. Dem habe ich, ohne mit der Wimper zu zucken, 500 Mark in die Hand gedrückt und mich riesig gefreut. Mein Freund ist mit mir nach Hause und wollte das zumindest mal hören. Es ist ein Friedensinterview auf der Rückseite und vorne drauf ist dieser Wechsel „John – Yoko – John – Yoko“, und das 20 Minuten lang. Mein Kumpel hat gesagt: „Du tickst doch nicht richtig.“

Ein Mekka für die Plattensammler aus der DDR soll Ungarn gewesen sein.

Wenn man 14 Tage Auslandsurlaub machen wollte, konnte man für 14 Tage Geld tauschen. Ich glaube, 30 Mark pro Tag, nicht mehr. Wir waren mehrere Freunde und mit diesem Geld sind wir nach Ungarn runter gefahren. Dort haben wir alles für Platten ausgegeben und sind am selben Tag zurück. Am Zoll machten die große Augen, wenn sie den Datumsstempel im Pass gesehen haben. Manchmal haben die uns die Cover weggenommen, von den Kiss- oder von den Scorpions-Platten. Die Scorpions hatten zum Beispiel dieses obszöne Cover mit der nackten Brust, auf der Kaugummis lang gezogen werden. Mit meinen Beatles-Platten wurde ich vom Zoll verschont. Ich glaube, 190 Forint kostete eine LP in Ungarn, das waren ungefähr 27 Mark. Mehr als die 16 Mark 10, die man in der DDR bezahlen musste. Uns war’s das wert. In Budapest gab’s die original ungarischen Pressungen von der Firma Pepita. Teurer als die von Pepita waren die India-Dum-Dum-Pressungen aus Indien. Ansonsten gab’s die sowjetischen Melodija. Und als Import die jugoslawischen Jugoton, das waren von den Titeln und vom Cover her exakt die gleichen Platten, wie sie in der BRD veröffentlicht wurden. Durch diese Ungarnreisen haben wir uns auf dem aktuellsten Stand gehalten. Es kam ja ständig was raus. Es gab nicht ein Jahr, in dem keine Beatles-Platten erschienen sind.

Das Foto zeigt Edmund Thielow inmitten seiner Beatles-Sammlung – insgesamt mehr als 6000 Tonträger

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