"Kompression kann zum Wohlklang beitragen"

STEREO: Warum arbeitet man überhaupt mit Kompression?
Günter Pauler: Nehmen wir ein klassisches Orchester, das über 100 Dezibel Dynamik erzeugen kann. In einem normalen Wohnzimmer haben wir aber bereits Umgebungsgeräusche von zirka 40 dB, so dass man den Dynamikrange noch addieren müsste, doch ein Spitzenpegel von 140 dB wäre unerträglich. Der Hörer müsste also laufend den Lautstärkeregler bedienen, weil er entweder nichts hört oder aber ein Riesengetöse kommt. Bei einer Rockband wäre es genauso: Beim Abspielen einer CD in dezenter Lautstärke würde er ohne Kompression nur noch die lautesten Passagen des Sängers oder eines Instruments wahrnehmen, alles andere verschwindet im Hintergrund.

Wie bekommt man die Dynamik in den Griff?
Bei Klassikaufnahmen war früher der Tonmeister der lebende Kompressor. Er las die Partitur und hat vor Pianissimo-Stellen den Regler leicht hochgezogen und kurz vor lauten Passagen nach unten. Später kamen Klassikaufnahmen aus den USA, die wegen ihrer Direktheit hierzulande großes Aufsehen hervorgerufen haben. Der Grund: In den USA wurde der Fairchild Röhrenkompressor erfunden, der konnte diese Dynamikregelung noch effektiver ausführen.

Heute arbeitet man mit Limitern.
Der legendäre Fairchild Kompressor wurde später auch in Deutschland vorzugsweise bei der Überspielung von Schallplatten eingesetzt. Limiter sind die brutalere Variante eines Kompressors. Sie arbeiten im Unterschied zu Kompressoren nicht mit möglichst unhörbaren Regelvorgängen, sondern begrenzen alle dynamischen Spitzen stärker und schneller. Dadurch erzielt man eine noch höhere Lautheit.

Was sind die Nachteile?
Extreme Kompression/Limiting bei Popproduktionen führen häufig zu schlechten Ergebnissen, weil alle Lebendigkeit verloren geht. So wird es zwar laut, aber hässlich. Die Musik wirkt tot, weil ohne dynamisches Spiel das Gehirn keine Lust mehr hat, deren Verlauf zu folgen.

Wie vermeidet man das?
Wir setzen eine andere Methode der Kompression ein, die scheinbar sehr unbekannt ist. Mit einem speziellen Gerät halten wir den ausklingenden Pegel etwas länger, bevor er ganz absackt. Auf diese Weise hat das Ohr länger Zeit, in den Ausklang hineinzuhören, und das ist genau die Zeit, die das Gehirn braucht, um viele klangästhetische Informationen aufzugreifen. Durch diese Verlängerung des Ausklangs wird tatsächlich auch die Lautheit vergrößert, aber eben nicht in dem Sinne, dass die Musik von oben gedeckelt wird.

Aber wird dadurch nicht der natürliche Klang verfälscht?
Ja, aber sonst müsste man konsequenterweise in Originallautstärke hören. Wir arbeiten wie in der Fotografie mit Miniaturen. Das Matterhorn in Originalgröße abzubilden funktioniert nicht, also muss man für das Foto ein kleineres Format wählen. In der Musik macht man das über Kompression. Man kann eine Sonnenblume realistisch fotografieren oder von Van Gogh malen lassen – für die meisten Leute erzeugt Letzteres mehr Emotionen. Das Gemälde setzt durch künstlerische Übertreibung etwas frei, was das Foto nicht bietet.

Durch Kompression entstehen auch Verzerrungen und digitale Artefakte.
Ja, aber nur, wenn schlechte Geräte eingesetzt bzw. diese falsch bedient werden. Gute Kompressoren dagegen arbeiten nicht in Echtzeit, sondern verzögern das Signal, bis dieser Rechenvorgang abgeschlossen ist. So werden Verzerrungen und andere Artefakte vermieden.

Manche Tontechniker in Rock und Pop arbeiten aber bewusst in die Verzerrung hinein.
Richtig. Da jede Art von Klirr fürs Ohr wie ein Zugewinn an Lautstärke wirkt, fügt man mit Studio-Equipment ein wenig Oberwellen hinzu. Das ist aber genau das Gegenteil von dem, was ich für meine Aufnahmen will.

Wie hat sich die Kompressionspraxis in den letzten Jahren entwickelt, Reizwort „Loudness war“?
Komprimiert hat man bereits zu analogen Zeiten. Schlimm wurde es erst, als immer billigere Digitalgeräte auf den Markt kamen, die zunehmend von Leuten mit wenig Vorkenntnis oder Talent bedient wurden. Die Probleme haben sich seitdem noch durch Rundfunk und Fernsehen verstärkt. Eine CD mit einem DR-Wert von zehn Dezibel quetscht man bei vielen Stationen ohne Weiteres auf ein bis zwei dB zusammen – denn Sieger ist im Radio der Lauteste. Grund genug für mich, kein Radio mehr zu hören.

Auch bei vielen Remasterings geht der Trend hin zu starker Kompression. Bei einem Remaster von „Brothers In Arms“ wurde die Dynamikrange von ursprünglich 16 auf 8 dB halbiert.
Es ist traurig, was da passiert ist. Jemand hat den Kompressor und EQ einfach bis zum Stehkragen aufgedreht, wodurch sich auch die Tonalität stark verändert hat. Es sind zusätzliche Höhen entstanden, die nicht im Sinne des Produzenten gewesen sein können, die Hihat und die Becken sind viel zu laut und angezerrt. Durch dieses und andere Negativbeispiele wurden viele Hörer in puncto Remastering enttäuscht.

Und dennoch fordern Musiker, lauter zu komprimieren?
Bei Produktionen meines Labels Stockfisch entscheide ich allein. Aber wir mastern ja auch für andere Label, und da ist es teilweise schizophren. Musiker oder Produzenten kommen herein mit ihrer Aufnahme und sagen: „Wir wollen an diesem ‚Loudness war’ nicht teilnehmen, es soll lieber luftig klingen“. Wenn man dann aber im Laufe des Mastering-Prozesses zwischen zwei Versionen hin- und herschaltet, entscheiden die sich letztlich doch für die stärker komprimierte.

Musiker sind zwar für das Thema sensibilisiert, aber subjektiv wollen sie es dann doch lauter haben?
Ja. Die Bevorzugung geht hin zum komprimierten Signal, auch bei unbefangenen Hörern.

Viele Stockfisch-Produktionen sind in der Tat audiophil, obwohl sie „nur“ einen mittelgroßen Dynamikrange haben.
Das ist genau das Problem mit dem Dynamikrange: Man muss die Zahlen im Verhältnis zum Musikstück betrachten. Ein Cello zum Beispiel hat einige Tonlagen, die sehr laut sind, während es in anderen beim Zusammenspiel mit weiteren Instrumenten völlig wegsackt. Wenn man die nicht komprimiert, würde man denken, dass der Cellist eine Pause macht. Oder nehmen wir eine Stimme mit Gitarrenbegleitung. Unter Umständen kann so etwas auch ohne Kompression toll klingen. Wenn aber die Sängerin furchtbare Spitzen erzeugt, die in den Ohren weh tun, oder die Gitarre ganz absackt, dann muss man etwas unternehmen. Wobei man als Produzent genau wissen sollte, wie man Kompression dosiert. Eine der Musik angepasste Kompression ist für mich ein gestalterisches Werkzeug, sie kann zum Wohlklang beitragen.

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