Am Anschlag

Dass das Gros der Popmusik in puncto Dynamik immer mehr plattgebügelt wird, gilt als eines der größten Ärgernisse unter HiFi-Enthusiasten. Doch nicht alles hat sich in den letzten Jahren verschlechtert.  Andreas Kunz

Es herrscht Krieg, und zwar weltweit. Opfer sind vor allem anspruchsvolle Musik- wie HiFi-Fans, und auch wenn keine Toten zu beklagen sind, ist dieser Konflikt alles andere als harmlos. Egal ob TV, Radio oder CD: Bei kaum einem Medium scheint es mehr ein „Leise“ zu geben, stattdessen wird man oft im wahrsten Sinne des Wortes angebrüllt. Kein Wunder, dass beim Hörer Stress und das Risiko von Hörschäden zunehmen. Seit einigen Jahren hat dieses Phänomen einen Namen: „Loudness war“, zu deutsch Lautheitskrieg.

Tschaikowskys „1812 Ouvertüre“ in der Telarc-Einspielung (oben, Dynamic Range 14) mit Erich Kunzel gilt als ein Musterbeispiel für eine große Dynamik. Gegen Ende steigert sich die Lautstärke innerhalb von einer Minute gewaltig, was dem Live-Erlebnis recht nahe kommt. Eine von uns komprimierte Fassung (unten, Dynamic Range 8) ebnet die Unterschiede extrem ein. Weil zudem plötzliche Impulse am Ende beschnitten werden, ist diese künstlich erzeugte Version nicht nur weniger ausdrucksvoll, sondern leidet auch unter Verzerrungen.

Gewaltige Dynamik

In den 80er Jahren war das noch anders. Damals feierten HiFi-Liebhaber die Einführung der CD, die mit einem Schlag eine gewaltige Dynamik von bis zu 100 Dezibel wiedergeben konnte – weit mehr als die LP. Ein goldenes Zeitalter schien anzubrechen, in dem man Schallereignisse immer perfekter würde abbilden können. In der Tat nutzte man in den Anfangsjahren die neuen Möglichkeiten, nicht nur bei einem audiophilen Aushängeschild wie „Brothers In Arms“ der Dire Straits.

Doch ab Anfang der 90er Jahre änderte sich etwas. Während Kompression – also das Eindampfen der Unterschiede zwischen lauten und leisen Stellen – im analogen Zeitalter ihre Grenzen hatte, wurden diese nun durch digitale Gerätschaften regelrecht gesprengt. Jeder konnte plötzlich mit günstigem Equipment manipulieren, wie er wollte. Spätestens seit der Jahrtausendwende ist ein regelrechter Wettkampf zu beobachten, die Grenzen immer weiter auszureizen. Doch warum wollen die meisten Musiker, Produzenten und Hörer Musik immer lauter haben?

Zunächst einmal gibt es für Kompression ganz praktische Gründe. Bei deutlichen Umgebungsgeräuschen, zum Beispiel im Auto, kann es lästig oder sogar gefährlich sein, wenn Musik mal extrem leise ist, und dann plötzlich mit voller Wucht knallt. Besonders, wer großorchestrale Werke der klassischen Musik genießt, kennt das Problem. Und da kaum ein HiFi-Fan selbst bei toleranten Nachbarn die Möglichkeit hat, packende Stellen auch nur annähernd in Originallautstärke zu hören, ergibt ein gewisses Maß an Kompression Sinn: leise Stellen anzuheben, damit sie besser hörbar werden, Fortissimoausbrüche dagegen zu begrenzen.

Beispiele für hervorragende Alben, die wegen zu starker Kompression kritisiert wurden: „Brothers In Arms“ von den Dire Straits (DR8), „Exile On Main Street“ von den Stones (DR8) (jeweils die aktuellsten Remaster), „The  Deep Field“ von Joans as Police Woman (DR6)

Kompression ohne Maß

Die Betonung liegt auf einem „gewissen Maß“. Die meisten Produzenten haben bei ihrer Arbeit weniger den audiophilen Feingeist vor Ohren, der konzentriert seiner Kette lauscht, sondern eher den Nebenbeihörer, der Musik via Radio, MP3-Porti oder Handy konsumiert. Und da deren Lautsprecher – aus HiFi-Sicht meist nicht mehr als eine Art „Brüllwürfel“ – rein technisch gar nicht in der Lage sind, eine größere Dynamik verzerrungsfrei wiederzugeben, werden eben die Musikproduktionen deren niedrigem Niveau angepasst.

Dazu kommt, dass Hörer bei der Sendersuche im Autoradio Lautes automatisch bevorzugen. Dieser Mechanismus scheint dem Menschen eingepflanzt zu sein. Für unsere Vorfahren war es überlebenswichtig, auf plötzliche laute ­Schall­ereignisse (angreifende Tiere etc.) schnell zu reagieren. Auf der anderen Seite kann ein gleichmäßiger Rhythmus in großer Lautstärke  menschliche Urängste betäuben; der Mensch assoziiert dabei einen gleichmäßigen Herzschlag. In jedem Fall wirkt das Lautere zunächst einmal eindrucksvoller. Das Problem: Als Dauerzustand wirkt Lautheit monoton, denn ohne Leises zwischendurch muss das Ohr dem musikalischen Ablauf nicht mehr intensiv folgen.

Als die Fernsehanstalten den Lautheitswahn beendeten

Früher war nicht alles besser. Noch um die Jahrtausendwende mussten TV-Zapper damit leben, dass man bei einem Sender kaum etwas verstand, während der andere viel zu laut war. Noch saurer stieß auf, dass einen Werbung geradezu anbrüllte – deutlich mehr als heute. Dass sich dies seit Ende 2012 verbessert hat, liegt an der Richtlinie EBU-R 128. Bis dato galt ein Spitzenpegel als verbindlich. Da dieser nicht überschritten werden durfte, Werbekunden aber mehr Aufmerksamkeit wollten, wurde gnadenlos in Richtung Spitzenpegel komprimiert – so heftig, dass Zuschauer reihenweise wegzappten. Da sich aber kein Sender sinkende Einschaltquoten erlauben konnte, einigten sich die deutschen Fernsehsender auf einen Grenzwert für die Lautheit, der sich unter anderem am Durchschnittspegel orientiert. Die Regel ermöglichte es, in Film und Werbung Dynamik wieder als Gestaltungsmittel einzusetzen. Für die Musikbranche würde man sich Ähnliches wünschen, ebenso für Video- und Audiomaterial im Internet.

Verschlechterung des Klangs

Nicht zuletzt verschlechtert sich die Soundqualität. So werden bei einer besonders brutalen Art der Kompression, dem Limiten, schlicht die Pegelspitzen von Schallereignissen gekappt. Dadurch verlieren Instrumente ihre charakteristischen Klangfarben, und man nimmt Verzerrungen in Kauf. Nicht nur Hörer, auch Musiker wie Bob Dylan reagieren darauf genervt: „Du lauschst diesen neuen Aufnahmen, und sie klingen grauenhaft. Nichts hat Präzision, auch nicht die Stimme, es ist nur noch statisch.“ Immer wieder gibt es Beispiele, wo Alben trotz guter bis hervorragender musikalischer Qualität wegen ihrer geringen Dynamik nur ein eingeschränktes Hörvergnügen bieten. Bedeutet dies, dass stark Komprimiertes in jedem Fall schlechter klingt?

Nein, per se verteufeln sollte man Kompression wiederum auch nicht. So kann es durchaus sinnvoll sein, Hardrock-Alben stärker zu komprimieren als Klassikaufnahmen: Erstere sollen auch durchaus „knallen“, während man bei einem Orchester tendenziell eher die Feinstrukturen verfolgen möchte. Und selbst innerhalb eines fest umrissenen Stils sagt der Dynamikrange längst nicht alles aus. So kann eine Folk-Produktion mit einem durchschnittlichen Wert durchaus audiophil klingen, während eine mit größerer Dynamik nicht überzeugt. Das Können eines Tonmeisters oder Produzenten umfasst eben noch andere Faktoren wie Wahl und Positionierung der Mikrofone, Sachverstand und Kreativität beim Mix usw. Zudem gibt es auch noch verschiedene Methoden der Kompression (siehe Interview).

Dennoch ist die Lage insgesamt für anspruchsvollere Hörer unbefriedigend: Nicht nur im Hinblick auf aktuelle Popproduktionen, sondern auch, was viele neu aufgelegte Remaster betrifft. Ins Blickfeld rücken dadurch Formate wie SACD oder hochauflösende Downloads, die – weil sie sich vor allem an Audiophile richten – tatsächlich in manchen Fällen  weniger komprimiert sind. Ähnliches gilt für das gute alte Vinyl. Eine Ironie der Geschichte, denn theoretisch kann dieses Format ja weniger Dynamik als eine CD wiedergeben. Doch der simple Grund, dass man bei hohen Dauerpegeln weniger Musik auf eine Plattenseite schneiden kann, scheint die Industrie manchmal zu veranlassen, weniger komprimiertes Ausgangsmaterial zu verwenden. Eine Garantie hat man aber nicht.

Immerhin gab es in den letzten Jahren auch ein positives Signal. Seit Ende 2012 Jahres müssen sich deutsche Fernsehsender an eine Richtlinie der Europäischen Rundfunkunion (EBU) halten, die vorschreibt, dass dynamikkomprimierte Inhalte künftig leiser ausgesteuert werden müssen als bisher (siehe Kasten). Frieden schaffen mit geringerem Einsatz digitaler Waffen wäre jedenfalls auch für den Tonträgermarkt wünschenswert. Denn merke: Lautes beeindruckt auf Dauer nur, wenn es auch Leises gibt.

Redaktion im Selbstversuch

Wie wird Kompression von der Redaktion bewertet? Um dies herauszufinden, starteten wir einen Blindtest mit je einem Beispiel aus Klassik und Pop. Zunächst lauschten wir einem einminütigen Ausschnitt aus Tschaikowsky „1812 Ouvertüre“, deren Dynamikrange wir durch die Software „Ableton Live 8“ von 14 auf 11 dB komprimierten (eine extremere Kompres­sion auf 8 dB, oben in der Grafik dargestellt,  verzerrte). Es folgte ein Ausschnitt aus einem Album der Band „Mudcrutch“, wo auf Veranlassung von Bandleader Tom Petty neben der offiziellen Version noch eine unkomprimierte veröffentlicht worden war. Als Beispiel wählten wir den Song „Scare Easy“: Hier hat die HiFi-Version einen DR-Wert von 12 dB, die Standardfassung nur einen von 8 dB. Bei Pop wie Klassik bevorzugte die Redaktion klar das unkomprimierte Beispiel, wobei das Urteil bei Mudcrutch noch deutlicher ausfiel. Allerdings war beim Vergleich komprimiert/unkomprimiert die Lautheit jeweils unterschiedlich. Doch wie wird unterschiedliche Kompression bei gleicher Lautheit bewertet? Zur Klärung dieser Frage  stützten wir uns auf eine Test-CD, die im Rahmen einer Diplomarbeit zum Thema „Untersuchung  zur  Wahrnehmbarkeit von Dynamikeinengungen“ von Henning Birkenhake und Christian Struck, beide inzwischen praktizierende Tonmeister, entwickelt wurde. Darauf werden unterschiedlich stark komprimierte Beispiele derselben Musik gegenübergestellt, und der Hörer entscheidet, welche Version besser gefällt. Während sich bei „barocken Streicherklängen von Biber“ und „Schlagzeug mit Bass“ ein uneinheitliches Bild ergab, bevorzugten die Redakteure bei einem Stück für „Westerngitarre“ und vor allem bei „menschlicher Stimme“ (Hörspiel) eher die unkomprimierten Versionen. Ein Ergebnis, das in etwa dem der Diplomarbeit entspricht, für die 274 Fragebogen ausgewertet worden waren. Allerdings war hier wie dort die Streuung groß, was zeigt, dass subjektive Faktoren bei der Beurteilung von Kompression nicht zu unterschätzen sind.

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